Artikel: Familienkrisen überstehen
 
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Gastbeitrag: Gemeinsam gut durch schwere Zeiten

Jede Familie kann Krisen erleben. Familienexpertin Nora Imlau erklärt, wie man diese Zeiten übersteht und bewältigt.

Alle Eltern wünschen ihren Kindern eine schöne Kindheit. Glücklich sollen sie mit uns sein, entspannt und gelöst. Doch es ist ganz normal, dass Kindheit nicht immer nur froh sein kann. Fast alle Familien gehen miteinander auch durch schwere Zeiten – sei es durch eine Krankheit, einen Umzug, eine Trennung, einen Verlust oder irgendeine andere Krise. Zusammen durch eine schwierige Phase durchzumüssen, bereitet vielen Eltern Schuldgefühle: Was muss unser armes Kind da jetzt schon tragen? Doch Kinder sind durchaus in der Lage, auch Schweres unbeschadet zu überstehen. Wichtig ist dabei jedoch, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein gelassen werden, sondern liebevolle Begleitung und Fürsorge erfahren. Krisenfestigkeit erwächst aus Bindungssicherheit – so lässt sich der aktuelle entwicklungspsychologische Forschungsstand diesbezüglich zusammenfassen. Und das heißt: Wir als Eltern haben nicht in der Hand, welches Glück oder Unglück unser Kind in welchem Alter miterlebt. Aber wir können stets dafür Sorge tragen, dass wir Rahmenbedingungen schaffen, unter denen wir gemeinsam auch wirklich schlimme Dinge überstehen und bewältigen können. Dafür sind diese fünf Resilienzfaktoren wertvoll: 

Validation, also Bestätigung

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Gastbeitrag von Nora Imlau: Gemeinsam gut durch schwere Zeiten - Validaton - alle Gefühle sind richtig

Kinder haben ihre ganz eigene Wahrnehmung der Welt. Manches, was wir als hochdramatisch empfinden, stecken sie erstaunlich gelassen weg, während anderes sie in höchste Trauer versetzt, was wir vielleicht gar nicht nachvollziehen können. So gibt es etwa Kinder, die beim Tod eines Großelternteils kaum eine Regung zeigen, aber außer sich sind, wenn ihr Haustier stirbt. Für Erwachsene ist das nicht immer leicht auszuhalten. Umso wichtiger ist es, die Grundhaltung einzunehmen: Es gibt keine falschen Gefühle, und jedes Empfinden wird von uns als wahr, richtig und wichtig angenommen. Ein Geschwisterkind erkrankt und das gesunde Kind reagiert nicht mit Tränen, sondern mit Wut oder scheinbarer Gleichgültigkeit? Das ist okay. Ein Kind zeigt in einer Krisensituation Anzeichen einer Regression, also einer Rückentwicklung, und verhält sich plötzlich wieder wie ein Baby oder Kleinkind? Auch das ist okay, und gar nicht so selten. Alle Gefühle dürfen sein. Jede emotionale Reaktion und Nicht-Reaktion (!) sind valide. Für Kinder ist es unglaublich wichtig, dass ihnen ihr Empfinden und Erleben nicht abgesprochen wird. Nur so können sie ihre Emotionen nach und nach integrieren, also in ihr biographisches Erleben einfügen und verarbeiten. 

Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, Gleichzeitigkeiten auszuhalten

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Gastbeitrag von Nora Imlau: Gemeinsam gut durch schwere Zeiten - Ambiguitätstoleranz - die Gleichzeitigkeit von Gefühlen aushalten

In einer Krise verfallen wir oft intuitiv in ein gewisses Schwarz-Weiß-Denken, halten Dinge für entweder richtig oder falsch, angemessen oder unangemessen. Doch so wie wir Menschen mehrere Gefühle gleichzeitig haben können, können auch mehrere scheinbar widersprüchliche Dinge gleichzeitig wahr sein. Ein Kind kann in einer belastenden Familiensituation gleichzeitig tieftraurig und sehr glücklich sein, oder im einen Moment Nähe brauchen und im nächsten jede Berührung verwehren. Der wichtigste Grundsatz gerade in schweren Phasen ist deshalb: Mein Erleben muss nicht dein Erleben sein. Wir können beide in derselben Situation stecken und sie ganz unterschiedlich empfinden – weil wir unterschiedlich alt sind, unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen haben, unterschiedlich empfinden. Auch vermeintlich unangemessenen Reaktionen dürfen ihren Raum bekommen: Auf den Tod eines nahen Menschen mit Wut oder Realitätsverleugnung zu reagieren, ist etwa genauso valide wie eine gewisse Erleichterung und inneren Frieden zu spüren. Alles kann gleichzeitig da sein.

Verantwortung, also eine klare Verteilung der Zuständigkeiten

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Gastbeitrag von Nora Imlau: Gemeinsam gut durch schwere Zeiten - Verantwortung übernehmen

Wie krisengebeutelt eine Familie auch sein mag – es ist wichtig, dass die Verantwortung für das Wohlergehen aller bei den erwachsenen Personen in der Familie liegt, und nicht beim Kind oder bei den Kindern. Natürlich können und dürfen Kinder uns auch trösten, in den Arm nehmen, bei Kleinigkeiten unterstützen. Doch wenn Kinder in belastenden Momenten das Gefühl haben, selbst die Verantwortung für das gerade so fragile Familiensystem übernehmen zu müssen, weil ihre Erwachsenen das gerade nicht können, ist das nicht gesund. Es ist für Kinder eine Überforderung, für ihre eigenen Eltern quasi in die Elternrolle zu rutschen, sie emotional versorgen zu müssen und dabei eigene Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben zurückzustellen. Parentifizierung nennt man diese Rollenverschiebung, bei der Kinder ihre eigenen Eltern „be-eltern“, und als Eltern sollten wir ein Auge darauf haben, dass das nicht geschieht. Sind wir selbst in einer Krisensituation nicht in der Lage, die Verantwortung für uns und unsere Kinder zu übernehmen, müssen wir andere Erwachsene organisieren, die diese Rolle an unserer Stelle ausfüllen können, bis wir selbst dazu wieder in der Lage sind.

Moralische Neutralität, also die Grundhaltung, es sich leicht machen zu dürfen

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Gastbeitrag von Nora Imlau: Gemeinsam gut durch schwere Zeiten - moralische Neutralität - mal Fünfe gerade sein lassen

Geprägt durch die strengen Normen unserer Leistungsgesellschaft sind wir Eltern oft unglaublich streng mit uns selbst und haben schnell das Gefühl, zu versagen, wenn wir unseren eigenen Ansprüchen nicht genügen. Diese umfassen oft eine lange Liste von Dingen, die „gute Eltern“ angeblich nicht tun: Ausruhen statt Küche aufräumen. Tiefkühlpizza servieren, statt frisch zu kochen. Mehr Medienzeit erlauben statt pädagogisch wertvoll im Wald zu spielen. Und so weiter. Gerade in schwierigen Zeiten ist es jedoch essenziell, dass wir unseren Selbstwert nicht an derlei externen Standards festmachen, sondern sehr pragmatisch und selbstwertschätzend schauen: Wofür reicht gerade meine Kraft, was tut uns allen jetzt gut? Und wenn das ein Zeichentrickfilm mit Kakao ist bei schönstem Sonnenschein, dann ist das so. Und wenn unsere Kinder temporär deutlich mehr Medienzeit* bekommen, weil wir selbst einfach erstmal wieder durchatmen und klarkommen müssen, dann ist das okay. Und verantwortungsvoll. Und ein Zeichen guter Elternschaft. Weil wir unsere Standards damit nicht gesenkt, sondern verschoben haben – so, dass sie zu unseren aktuellen Anforderungen passen und uns ermöglichen, mit unseren Kindern auch jetzt noch liebevoll umzugehen. Kluges Ressourcenmanagement ist das. Und gewiss kein Grund für ein schlechtes Gewissen.

Radikale Akzeptanz, also das Annehmen von dem, was ist

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Gastbeitrag von Nora Imlau: Gemeinsam gut durch schwere Zeiten - Radikale Akzeptanz hilft

Es ist eine normale menschliche Reaktion in Krisenzeiten, die Wirklichkeit nicht akzeptieren zu wollen. Zu kämpfen, zu verleugnen, zu verhandeln, zu verweigern. Doch um gemeinsam durch eine schwere Phase zu kommen, ist es wichtig, irgendwann an einen Punkt radikaler Akzeptanz zu kommen. Anzunehmen, dass das eigene Leben jetzt gerade so ist, wie es ist. Auch wenn man andere Pläne hatte. Auch, wenn es nie so gewünscht war. Diese Akzeptanz kann den Nährboden dafür bereiten, gemeinsam zu schauen, was im Hier und Jetzt hilft, zusammen weitergehen zu können. Auch wenn das vielleicht ganz anders aussieht als ursprünglich vorgesehen. Radikale Akzeptanz, das kann bedeuten, anzunehmen, dass die geplante Rückkehr in den Job hier und jetzt nicht passieren wird. Oder dass der lang ersehnte Urlaub ganz anders aussehen wird als gedacht. Dass das Leben mit Kind gerade nicht ist, wie man sich das Leben mit Kind immer ausgemalt hatte. In dieser Akzeptanz steckt oft ein großer Schmerz, aber auch eine innere Befreiung, denn was ich angenommen habe, muss ich nicht länger bekämpfen. Stattdessen kann ich nach Wegen suchen, diesem neuen Normal dennoch schöne, erfüllende Momente abzuringen, wenn diese vielleicht auch ganz anders aussehen als das je vorgesehen war. 

Worauf es ankommt

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Gastbeitrag von Nora Imlau: Gemeinsam gut durch schwere Zeiten - worauf es ankommt

Wichtig ist, dass all diese Resilienzfaktoren keine To-do-Liste darstellen, die erledigt werden muss. Keinen Anforderungskatalog, den es abzuarbeiten gilt. Vielleicht sind in so mancher Krisensituation nur zwei oder drei der fünf Faktoren zugänglich oder möglich. Dann ist das kein Versagen, sondern ein Zeichen dafür, dass diese Faktoren besonders sorgfältig gepflegt und gestärkt werden sollten. Krisensituationen sind individuell und unvergleichlich, und es ist unmöglich, sie „nach Lehrbuch“ zu bewältigen. Es wird gerade in schweren Zeiten immer wieder Momente geben, in denen Bedürfnisse unerfüllt bleiben; Worte fallen, die man im Nachhinein lieber nicht gesagt hätte. Doch eine bindungssichere Basis, also eine Eltern-Kind-Beziehung voller Vertrauen und emotionaler Sicherheit, helfen dabei, auch solche Erfahrungen einordnen und verkraften zu können.

Es gibt im Leben leider keine Garantie für eine glückliche Kindheit, und auch keine dafür, unser Kind vor einem möglichen Trauma schützen zu können. Doch wenn ein Kind weiß, dass es seine emotionale Last nicht alleine tragen muss, ist bereits viel gewonnen. Die schlimmsten Kindheitsverletzungen erwachsen oft aus Einsamkeit, aus dem Gefühl, dass man nicht gesehen und dass einem nicht geglaubt wird. Diesem Gefühl können wir ganz aktiv vorbeugen, indem wir für unser Kind da sind, ihm zuhören und ihm Glauben schenken. Damit wir das können, müssen wir selbst möglichst stabil dastehen. Deshalb ist es wichtig, dass wir insbesondere in schweren Zeiten nicht nur unserem Kind oder unseren Kindern, sondern auch uns selbst mit der größtmöglichen Großzügigkeit und Freundlichkeit begegnen. Dass wir uns selbst Gutes tun, unsere Bedürfnisse wichtig nehmen, uns Fehler und Unzulänglichkeiten verzeihen. Aus dieser Grundhaltung der Selbstwertschätzung erwächst eine Sanftmut, die uns selbst und unserer Familie durch schwere Zeiten tragen kann. Alles Gute dafür, und viel Kraft! 

Hast du mit deiner Familie selbst schon schwere Zeiten durchstanden? Was hat dir und deiner Familie dabei geholfen? Schreib uns einen Kommentar!

Autorin

Nora Imlau

Nora Imlau ist eine erfolgreiche Journalistin, Fachautorin und Referentin für Familienthemen. Mehrerer ihrer Sachbücher sind zu Bestsellern avanciert, darunter „So viel Freude, so viel Wut“ und „Du bist anders, du bist gut“, mit denen sie den Begriff der gefühlsstarken Kinder im deutschen Sprachraum einführte. Mit „Ein total genialer Mummeltag“ und „Und was fühlst du, Känguru?“ hat die vierfache Mutter erstmals auch Kinderbücher veröffentlicht.

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Nora Imlau

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