Artikel: Über Verlust und Trauer
 

Gastbeitrag: „How to carry, what can‘t be fixed“ – wie wir in Krisenzeiten verstehen, was wirklich wichtig ist

Autorin und Bloggerin Judith Beier schreibt über das, was uns hilft, uns als Familie durch schwierige Zeiten zu bringen.

„Wie man etwas aushält, das nicht mehr gut wird“, ist meine freie Übersetzung eines Buches von Megan Devine, einer amerikanischen Autorin, die über Trauer bloggt und schreibt, aufklärt und Menschen auf ihrem Weg durch die eigene Trauer unterstützt. Denn das ist, was ich über Verlust gelernt habe: Es führt kein Weg daran vorbei, nur mittendurch.    Wie man etwas erträgt, das nicht mehr zu reparieren ist, klingt wie die Aussicht auf Erlösung. Eine Anleitung dafür, wie es wieder gut werden kann. Bis alles wieder okay ist. Dass ein weiterer Bestseller von Megan Devine „It's okay, that you‘re not okay“ (deutsch: „Es ist okay, wenn du traurig bist“) heißt, ist kein Zufall. Es gibt nämlich kein Patentrezept. Es gibt überhaupt gar kein Rezept. Und es wird in keinem Fall alles wieder gut. Und das klingt so simpel und ist doch so schwierig, denn es stimmt ja: Die allermeisten Menschen überleben Verlusterfahrungen. Sogar Eltern tun das. Sie verlieren Kinder und schaffen es trotzdem, weiterzuleben. 

Ich sage am liebsten: Sie tun es gleichzeitig. 

Und jetzt sind wir mittendrin in meiner Geschichte, die ich heute erzählen will. Die davon handelt, wie es in Ausschnitten möglich ist, weiterzumachen. Alles zu fühlen. Das Schlimme und das Gute. Und wie wir das als Familie schaffen. Mit unseren Partner*innen und unseren Kindern. 

Jede Familie geht durch Krisen

Jede Familie geht durch Krisen

Vor fünf Jahren ist mein drittes Kind geboren und es war von Beginn an lebensverkürzend erkrankt. Wir haben nie gewusst, wie alt es werden wird und haben es täglich intensivmedizinisch versorgen müssen. Von einer Sekunde auf die andere waren wir Eltern Fritzis Lebensversicherung und wir hatten zwei weitere, gesunde und noch relativ kleine Kinder. Fritzi ist vor zwei Jahren ziemlich plötzlich verstorben und bis heute kann ich kaum sagen, welches Leben anstrengender war. Das mit ihr oder ohne sie.  

In beiden Fällen sind unheimlich viele verschiedene Bedürfnisse, Gefühle und Gedanken Teil unseres gemeinsamen Lebens und natürlich unterscheiden sie sich in Dauer, Intensität und Häufigkeit von denen in anderen Familien ohne derartige Verlusterfahrung. Gleichzeitig kennen wir alle diese Phasen, in denen wir uns als Eltern fragen, wie lange wir das noch und wie wir das überhaupt gerade schaffen können. Und auch, wenn wir erlebt haben, was zum Glück nicht vielen Eltern passiert, so bin ich sicher, dass in meinen Gedanken ganz viele Impulse für jede Familie liegen. Weil jede Familie durch Krisen geht – weil das Begleiten von Kindern so viel mehr ist, als einfach nur gemeinsam einen Alltag zu bestreiten. Mit Kindern zu leben ist unheimlich komplex und fordernd und das meine ich ganz wertfrei. Zu keinem Zeitpunkt habe ich mich selbst mehr herausgefordert gefühlt, als in meiner Elternschaft und ich glaube fest daran, dass wir uns darin alle sehr verbunden fühlen können. 

Aber vorab: Auch wir sind auf dem Weg. Es ist ein Prozess. Ob wir als Eltern gut auf unsere eigenen und die Bedürfnisse unserer Kinder (egal, ob gesund oder nicht) achten können, hat viel auch damit zu tun, wie wir groß geworden sind. Vieles von dem, was ich für mich gelernt habe, weiß ich erst durch meine Elternschaft. Vieles nähre ich immer noch nach, weil ich es als Kind nicht bekommen habe. Alles braucht und hat seine Zeit.  

Radikale Annahme entlastet und hilft

Judith Beier über schwere Zeiten: Radikale Akzeptanz entlastet und hilft

Um Krisen gut zu überstehen, hilft es, resilient zu sein und eine gewisse Robustheit gegenüber Stress und Unwägbarkeiten zu besitzen. Resilienz ist nichts, das wir entwickeln, nur weil wir ein Buch darüber lesen, wie wir das Unaushaltbare tragen lernen. Resilienz ist auch keine Entscheidung, kein Ergebnis eines positiven Mindsets. Ganz im Gegenteil – manchmal ist das einzige, das wir tun können, anzunehmen, dass es ist, wie es ist.  

Radikale Annahme ist bis heute etwas, das mir sehr hilft. Weil es mir augenblicklich den Druck nimmt, eine Lösung zu finden. Mein drittes Kind war lebensverkürzend erkrankt. Seine genetisch bedingte Erkrankung war eine, an der es täglich sterben konnte. Daran führte kein Weg vorbei. Es gab dafür keine Heilung, keine Alternative. Alles, was mir blieb, war die Akzeptanz dieser Tatsache. Ich konnte es nicht ändern. Das mag im ersten Moment zwar trostlos klingen, es bedeutete aber nicht, dass ich machtlos war. Ich konnte täglich wieder mein Bestes geben, dass mein Kind an diesem Tag überleben kann. Mir blieb mehr Kraft für dieses Unterfangen übrig, wenn ich weniger haderte. Mich seltener fragte, warum es uns getroffen hatte. In der Annahme dessen, dass es jetzt war, was es war, konnte ich Kräfte entwickeln, dieses Jetzt für uns alle bestmöglich zu gestalten. 

Ich war nicht machtlos und konnte es gleichzeitig nicht ändern – in dieser Ambiguität, dieser Gleichzeitigkeit, lag für mich die noch viel größere Entlastung: Ich war nicht schuld daran. Es war, was es war. Und heute ist ihr Fehlen einfach ein Fehlen. Es ist nicht meine Schuld und es ändert sich nichts daran, nur weil ich mich mehr anstrenge. Was ich tun kann, liegt in diesem Moment. Jetzt, hier und heute kann ich dafür sorgen, dass es mir und meiner Familie so gut wie möglich geht.  

Das Leben findet in Gleichzeitigkeiten statt

Judith Beier über Gleichzeitigkeiten im Leben

Dass immer alles ist, ist ein Gedanke, den ich lernen durfte und mittlerweile wirklich gernhabe. Wir empfinden nicht linear und Gefühle reihen sich nicht wie an einer Schnur hintereinander auf. Vielmehr haben wir immer zu allen Emotionen Zugang; das Zusammenspiel unserer aktuellen Gedanken und Ressourcen, körperlichen Eigenschaften und Anforderungen durch die Umwelt beeinflusst, welches Gefühl wir am deutlichsten wahrnehmen. Und natürlich können wir üben, aufmerksam auf unsere körperlichen Bedürfnisse, Gedanken und Emotionen zu achten und mehr wahrzunehmen, wenn wir uns Zeit und Raum dafür geben. Für den Anfang aber kann es reichen, darauf zu vertrauen, dass das Leben in Gleichzeitigkeiten stattfindet. Wir können traurig und dankbar sein – mir fehlt mein Kind und gleichzeitig bin ich über die drei Jahre dankbar, die ich mit ihm verbringen durfte. Ich kann am Ende eines Tages müde und gleichzeitig voller Neugier sein, weil ich nichts verpassen will. Die Frage ist doch, wie ich mich entscheide. Das bewusst zu tun und mich dabei nicht zu beschämen, spart Kraft. Mit meinem Kind gemeinsam zu überlegen, was es braucht, kann unsere Beziehung zueinander stärken und Ressourcen schonen. Manchmal reicht es schon, weitere Gefühle und Gedanken zu benennen. Natürlich ist mein Kind nach einem langen und erlebnisreichen Tag müde und gleichzeitig verneint es das vehement, weil sein kleiner Kopf noch so viel erleben will. Das anzunehmen, zu besprechen, kann oftmals eine Brücke bilden und dafür sorgen, dass mein Kind sich in meine Arme kuschelt, weil es sich und seine Bedürfnisse gesehen und ernst genommen fühlt, wenn ich ihm sage, dass ich verstehe, dass es noch so Vieles unbedingt noch heute unternehmen will.

Zuhören üben und Verständnis entwickeln, auch für sich selbst

Essenziell wichtig scheint mir dabei das Zuhören – ich übe mich täglich darin, meine Kinder darüber erzählen zu lassen, was in ihnen vorgeht und dabei wirklich zuzuhören und anzunehmen, was sie zu sagen haben.

Das Gute daran ist: Ich muss es nicht einmal verstehen. Ich muss nicht verstehen, warum mein Kind über den, von der falschen Seite geöffneten Joghurt so in Not gerät, dass es ganz außer sich vor Wut ist. Aber ich kann Verständnis dafür haben, dass es meine Unterstützung braucht, diese starken Gefühle auszuhalten. Das gilt auch für jeden in den Sand gefallenen Lolli und jeden anderen Abschied und Verlust. Während ich sanft gegenüber den Gedanken und Gefühlen meiner Kinder werde und Verständnis empfinde, werde ich ebenso weich gegenüber mir selbst. Habe ich als Kind noch gelernt, dass ich mich nicht so anstellen soll wegen des kleinen Kratzers am Knie, erlaube ich mir heute, das Ende meiner Lieblingsserie zu betrauern. Beschäme ich mich nicht mehr dafür, dass ich traurig bin, wenn ich meine Abendverabredung absagen muss, weil das Kleinkind mich mehr braucht – weil ich mir Gleichzeitigkeiten erlaube und gelernt habe, Ambiguitäten auszuhalten. 

Kein Gefühl ist für immer

An dieser Stelle möchte ich einschieben, welcher Gedanke mir immer dann sehr hilft, wenn ich selbst oder meine Kinder von sehr starken Gefühlen übermannt werden: „Kein Gefühl ist für immer.“ Und obgleich ich das kognitiv weiß, weil Gefühle am Ende auch einfach „nur“ biochemisch durch den Körper rauschen, hilft es mir ungemein, mich ganz bewusst daran zu erinnern oder mich daran erinnern zu lassen (durch einen Spruch am Kühlschrank etwa). Jedes Gefühl geht wieder vorbei und ein anderes schiebt sich in den Vordergrund. 

Ich kann mittlerweile auch dem beliebten Bild, das Trauer in Wellen kommt, nur noch bedingt etwas abgewinnen. Mein Kind fehlt immer, ich trauere immer, da bin ich sicher. Aber meine Trauer sieht ganz unterschiedlich aus und hat unterschiedlich Einfluss auf mein Erleben und Verhalten. Trauer kann Wut sein und richtig tiefe Traurigkeit. Sie kann machen, dass ich keine Energie habe, mich nicht entscheiden möchte. Dass ich Angst habe oder ganz stark berührt bin. Trauer ist für mich gleichzeitig auch Dankbarkeit und Wärme. Licht und Glückseligkeit und am Ende kann ich nicht sagen, dass eines der Dinge besser ist als ein anderes. Es ist eben, was es ist, und alles ist Ausdruck meines Vermissens und meiner Liebe, die nie enden werden. 

Wichtig ist, dass ich Verantwortung übernehme für die Anteile darin, die meine oder die Lebensqualität meiner Familie nachhaltig mindern könnten. 

Verantwortung übernehmen und um Hilfe bitten

Judith Beier über schwere Zeiten - Verantwortung übernehmen und um Hilfe bitten

Verantwortung. So ein großes, schweres Wort. Und ich bin sicher, alle Eltern kennen den Gedanken, nichts falsch machen zu dürfen. Und wie wunderbar entlastend kann da die Wahrheit sein: Wir machen alle Fehler, denn das ist menschlich. Und ganz Vieles machen wir als Eltern auch zum allerersten Mal. Wie ich als Elternteil Verantwortung übernehme, kann ganz unterschiedlich aussehen und es hilft mir, mir darüber immer wieder bewusst zu werden. Gleichzeitigkeit auszuhalten, bedeutet oft, nicht sofort eine Lösung zu generieren. Ich gebe ehrlich zu, dass das erste Jahr nach dem Tod unserer jüngsten Tochter ganz stark davon geprägt war, dass ein Geschwisterkind, das gerade eingeschult worden war, massive Schwierigkeiten hatte, mit seiner allumfänglichen Trauer in die Schule zu gehen. Und ich hatte dafür schlichtweg keine unmittelbare Lösung. Wenn es mich verzweifelt darum bat, nie wieder in die Schule gehen zu müssen, weil es dort immer so Angst bekäme, jemanden aus der Familie könne etwas Schlimmes geschehen und zu wenig Verständnis von den Lehrpersonen erfuhr, dann war ich im ersten Moment auch einfach erst einmal nur überfordert. Ich wusste nicht, wie ich das lösen kann. Mir ging es ja genauso. „Einmal die Welt anhalten, bitte!“, hätte ich gern ganz oft gerufen, weil ich eine Pause brauchte, um gut überlegen zu können. Und weil das nicht möglich war, sprach ich mit meinem Kind genau darüber. ich drückte mein Verständnis aus und ich sagte ihm, dass es mit seiner Trauer und seinen Ängsten ganz richtig sei. Ich validierte seine Gefühle und Gedanken immer wieder, denn das ist wichtig für uns Menschen, egal in welchem Alter. Wir sind immer richtig – was wir fühlen, ist wahr. Außerdem drückte ich ehrlich auch meine Überforderung und meine Begrenztheit aus. Ich versprach ihm nicht, dass alles wieder gut würde, und ich sagte ihm, dass ich jetzt in diesem Moment keine Lösung bieten könne. Aber ich versprach, mich zu kümmern. Gemeinsam mit meinem Mann bat ich um Gespräche mit den Lehrpersonen und wir entwickelten einen wirklich guten Plan, wie wir alle gemeinsam das Kind darin unterstützen konnten, angstfrei in die Schule zu gehen.

Das erforderte eine Menge Mut und ebenso Validation.

Es ist okay, nicht okay zu sein

Ich saß oft weinend in den Gesprächsrunden und bat wiederholt darum, dass die Menschen sich bitte nur im Ansatz vorstellen sollten, wie es mir mit dem Verlust eines meiner Kinder ging. Immer wieder besprach ich mich mit Freund*innen, meinem Psychotherapeuten, meinem Partner. Es war okay, dass ich nicht okay war. Ich gab mein Bestes. Ich übernahm Verantwortung genau darin, dass ich um Mithilfe bat. Um Verständnis.

Und ja, manchmal müssen wir eben dieses von unserem Gegenüber einfordern, weil es vielen von uns im Alltag schwerfällt, sich berühren zu lassen. Ich habe die Lehrerin, die mit mir geweint hat, nicht als schwach oder gar unprofessionell empfunden – sie hat mir vielmehr das Gefühl gegeben, in Ordnung zu sein. Validierung ist ein wesentlicher Faktor für Resilienz; was mir passiert ist, ist furchtbar. Was unsere gesunden Kinder erlebt haben, wird sie für immer beeinflussen. Gemeinsam Wege finden und aushalten, was so schwer zu ertragen ist – darin kann eine Lösung liegen und es ist eine Menge Arbeit. Darin liegen bewusste Entscheidungen, sich mit allen Verletzlichkeiten zu zeigen und ehrlich um Hilfe zu bitten. Und auch, wenn wir das Risiko eingehen, Ablehnung zu erfahren und unangenehme Erfahrungen zu machen (die kenne ich zuhauf) geben wir uns gleichzeitig die Möglichkeit, gänzlich andere Erfahrungen zu machen, Hilfe zu finden und an Stellen zu heilen, wo wir es vielleicht nicht für möglich gehalten haben.  

Jedes Gefühl ist richtig

Judith Beier über schwere Zeiten in der Familie - jedes Gefühl ist richtig

Zusammenfassend bedeutet das für mich: Ich muss nicht immer eine Lösung haben. In der Annahme von Gleichzeitigkeit – im Verständnis gegenüber meinem Kind, ohne dass ich seine Gedanken und Gefühle verstehen muss – kann ich als erwachsene Person meine sehr viel größeren Ressourcen wie Wissen und Erfahrungen nutzen, um mein Kind zu unterstützen. Ich kann selbst um Unterstützung bitten, wenn meine eigenen Kapazitäten nicht ausreichen – das ist Verantwortungsübernahme. Sie begegnet uns als Eltern täglich und in vermeintlich unscheinbaren Momenten und ich bin überzeugt, dass es wichtig ist, uns das immer wieder klar zu machen.

Mein Kind wünscht sich ein Eis zum Frühstück und ist wütend, wenn ich, aus für mich ganz validen Gründen, Nein dazu sage. Auch hier liegt Gleichzeitigkeit. Es ist okay, dass ich diese Entscheidung so treffe und es ist okay, dass mein Kind mit Wut darauf reagiert. Beides ist ganz einfach da. Und ich weiß, wie schwer das ist, diese Wut auszuhalten – gerade dann, wenn wir als Kinder nicht lernen durften, dass Wut ein Gefühl ist, das genauso so richtig ist wie alle anderen auch und noch heute als Erwachsene nur ganz schlecht Zugang zur eigenen Wut haben. Gleichzeitig nehme ich mir in diesen Momenten ganz bewusst vor, mein Kind nicht zu beschämen, in dem ich seine Wut bewerte oder es für seine Gefühle verantwortlich mache. Vielmehr übe ich mich in Selbstregulation: Ich atme, spüre den Boden unter meinen Füßen, fordere mir Körperkontakt durch meinen Partner ein und kann dann begleiten, wie die Wutwelle mein Kind erfasst und irgendwann auch wieder verlässt. Kein Gefühl ist für immer – auch das sage ich mir genau in diesen Momenten immer und immer wieder. Und indem ich meine Kinder genau auf diese Art zu begleiten versuche, lernen sie, dass ihre Gefühle valide sind. Dass sie genau richtig sind, wie sie sind UND dass ich als Elternteil Verantwortung für meine Entscheidung übernehme. Ich sage Nein zum Eis und halte die berechtigte Wut meines Kindes darüber aus.  

Niemand weiß, was die Zukunft bringt

Bezüglich elterlicher Entscheidungen mag ich noch ergänzen, dass es für mich einen Gedanken gibt, der mich ganz oft immer wieder trägt und den mittlerweile auch mein Mann oft genug für mich laut ausspricht: „Leg dich nicht mit der Zukunft an“, sagt Ruth Abraham (Pionierin der friedvollen Elternschaft und Begründerin der Weggefährt*innen) immer und es ist so hilfreich. Entscheidungen aus Angst zu treffen und aus ewigen Gedankenschleifen darüber, was irgendwann vielleicht einmal sein könnte, ist unheimlich unbefriedigend. In unserem Fall finde ich mich ziemlich oft in solchen Gedankenstrudeln wieder und am Ende verdeutlichen sie, was an Trauer oft so schwierig ist: Wir kennen das Morgen nicht. An manchen Tagen kann ich mir kaum vorstellen, dass es jemals leichter werden kann. An manchen weiß ich gar nicht, wie ich hierhin gekommen bin. Nicht zu wissen, was die Zukunft bringt, vereint uns alle – in Trauer ist es manchmal so, als würde sich dieser Umstand noch stärker verdichten und das damit verbundene Gefühl der Ohnmacht noch viel größer sein. Um nicht in eine Starre zu verfallen und mich in Ausschnitten auch wieder als selbstwirksam zu erleben, hilft es mir, zu sehen, wo ich aktiv werden kann. An welchen Stellen in meinen Gedankengängen ich mich ehrlich fragen darf, ob sie gerade hilfreich sind. Verantwortung zu übernehmen, heißt auch, sich zu informieren. Im obigen Beispiel bedeutet das vielleicht, dass ich mich ernsthaft frage, ob das Eis am Morgen wirklich problematisch ist? Heißt das automatisch, dass mein Kind fortan nur noch Zucker zum Frühstück will und Karies bekommt? Solche Art von Fragen ermöglicht es mir, wieder klar zu haben, dass ich die Zukunft nicht kenne und Entscheidungen im Jetzt treffen kann. Und natürlich sind die Antworten auf solche Fragen alles andere als einfach und natürlich kommt es total darauf an. Auf euch nämlich kommt es dabei an

Was uns als Familie guttut

Judith Beier darüber, was uns als Familie guttut

Moralische Neutralität nennt Nora Imlau es, wenn wir Entscheidungen innerhalb unseres Familiensystems fällen, die es uns leichter machen. Entscheidungen, die möglicherweise tiefsitzende (gesellschaftlich geprägte) Glaubenssätze anfassen und die wir uns ziemlich oft verbieten, weil sie negativ konnotiert sind. Der Klassiker ist für mich das Nahrungsangebot in Familien: Nur was frisch zubereitet wurde und bestenfalls aus saisonalen und regionalen Bioprodukten besteht, ist wirklich gut. Und das ist so wenig wahr wie umsetzbar. Dinge, die wir tun oder nicht tun, weil sie uns als Familie guttun, sind weder gut noch schlecht, richtiger oder besser – sie sind moralisch neutral. Sie sind hilfreich für diesen Moment, in dieser aktuellen Situation. Moralisch neutrale Entscheidungen sind aus meiner Sicht das Ergebnis von Verantwortungsübernahme und Validation. Sie sind möglich, wenn ich mir der Gleichzeitigkeit bewusst bin und radikal annehme, dass ich jetzt gerade und heute keine Ressourcen mehr habe, ein frisches Abendbrot zuzubereiten und stattdessen Pizza für alle bestelle. Ich bin keine schlechtere Mutter, wenn ich noch eine weitere Stunde Medienzeit* erlaube, weil ich nach Abwägen aller Kapazitäten und Restkräfte zu dem Ergebnis komme, jetzt selbst eine Stunde für mich zu brauchen, damit ich danach noch oder wieder genug Regulation aufbringen kann, meine Kinder liebevoll ins Bett zu begleiten.

Ich mache das ziemlich gut, wenn ich jeden Tag wieder meine eigene und die Energieampel meiner Kinder im Blick habe und weiß, was sie füllt und wofür noch Kooperationskraft notwendig sein wird. Und ich mache das ebenso gut, wenn ich das an meinen Partner und an andere Beziehungspersonen abgebe, weil mein Glas an manchen Tagen einfach richtig leer ist.

Ich bin gut, weil ich auf dem Weg bin und ich bin nicht weniger gut, wenn ich Fehler mache. Und ihr seid das auch!

Eure Judith  

*Anmerkung der Leseliebe-Redaktion: Natürlich sind auch Bücher Medien, die dein Kind wunderbar (und wertvoll) beschäftigen können. Wir haben dir dafür viele Tipps und Buchempfehlungen zusammengestellt.

Habt ihr die Geschichte von Fritzi bereits online verfolgt (@briefe.an.fritzi)? Oder seid ihr selbst mit eurer Familie durch eine Krise gegangen und habt Tipps zur Bewältigung, die ihr hier teilen mögt? Dann schreibt uns gerne einen Kommentar!

Bloggerin & Autorin

Judith Beier

Judith Beier ist auf Social Media durch die berührenden Briefe an ihr Kind Fritzi bekannt geworden (@briefe.an.fritzi). In „Flieg, Hummelchen, flieg!“ teilt sie ihre Erfahrungen aus dem Leben mit einem schwerkranken Kind nun auch in Form eines Bilderbuchs für Kinder ab 2 Jahren. Dazu hat sie sich mit Familienexpertin und Bestsellerautorin Nora Imlau zusammengetan.

Judith Beier - Bloggerin und Autorin der Briefe.an.Fritzi

Bild 2 und 4 von Anja Beuse (2021)

Bild 1, 3, 5 und 6 von Caro Funke (2022)

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