Das Märchen hat seine uns vertraute Form erst vor wenigen Jahrhunderten durch die Brüder Grimm erhalten, die mündlich überlieferte Märchen und Sagen sammelten und aufschrieben. Einige der Märchen-Motive sowie die darin enthaltenen Zaubersprüche verweisen aber auf eine lange, Jahrtausende alte Tradition. Zaubersprüche zum Beispiel gehören zu den ältesten Texten der Menschheit. Dass den Märchen nun selbst etwas wie ein Zauber innewohnt, liegt auch an ihrer Form: Das „Es war einmal…“ führt uns in eine unbestimmte, lang vergangene Zeit. Die einfache, märchenhafte Sprache, die Wiederholungen, die klare Gegenüberstellung von Gut und Böse – all das lässt uns innerlich verreisen und stellt eine wohlig-vertraute Stimmung her. Hinzu kommen die typischen inhaltlichen Motive: Eine Heldin oder ein Held, oft ein Kind, zieht hinaus in die (magisch beseelte) Welt und muss Aufgaben erfüllen. Dass die Helden die scheinbar ausweglosen Situationen oft mühelos und glücklich überstehen, wirkt beim Lesen selbst wie ein hoffnungs- und trostspendender Zauber.
Gastbeitrag: Grausam? Zauberhafte Märchen dürfen das!
… weil sie fantasievoll sind, abstrakt und vieles mehr. Lies jetzt den Gastbeitrag von Märchenpädagoge Dr. Oliver Geister.
Märchen in der Kritik
Märchen haben immer auch Kritiker auf den Plan gerufen, gerade wenn sie im erzieherischen Kontext erzählt wurden. Im 19. Jahrhundert war es noch das Fantastische in den Märchen, das es zu bekämpfen galt. Sollte man Kindern wirklich die irrationale Geschichte von einem sprechenden Frosch erzählen, der sich in einen Prinzen zurückverwandelt? Vermittelt der unrealistische Aufstieg vom Aschenputtel zur Prinzessin nicht schädlich-falsche Hoffnungen? Auf diese Kritik folgte die an den veralteten Rollenbildern in Märchen. Warum sollte man heute überhaupt noch Prinzessin werden wollen? Womöglich noch nur passiv da liegen, bis ein tapferer Prinz einen erlöst!?
Heute hat man gegen das Fantastische kaum noch etwas einzuwenden, weil man weiß, dass Fantasie als Voraussetzung für Kreativität gilt. Rollenbilder fasst man eher symbolisch auf. Wenn zum Beispiel Dornröschen hundert Jahre schläft, bis es erlöst wird, dann geht es nicht um ein vorgeblich stattgefundenes Ereignis, sondern um ein sehr einprägsames sprachliches Bild. Vielleicht sagt es aus, dass man manchmal eine lange Durststrecke durchhalten muss, ehe man sein Glück findet. Oder es geht aus der Sicht des Prinzen darum, den richtigen Augenblick abzuwarten. Kinder, so sagen Psychologen, sind durchaus in der Lage die Bildsprache von Märchen zu verstehen, manchmal sogar besser als Erwachsene.
Grausamkeit in Märchen
Der größte Vorwurf gegenüber Märchen gilt der darin enthaltenen Grausamkeit. Da will die böse Hexe Hänsel und Gretel töten und essen, oder das unschuldige Schneewittchen soll sterben, nur weil es der Stiefmutter zu hübsch ist. Am Ende lässt Schneewittchen ihre Stiefmutter dafür sogar auf ihrer eigenen Hochzeit in glühenden Pantoffeln hinrichten. Ja, Märchen sind grausam, einige sogar sehr! Denn Märchen erzählen vom Leben, und dazu gehört (leider) auch der Aspekt der Grausamkeit. Daher ist es durchaus sinnvoll, eine altersgerechte Auswahl zu treffen. Andererseits sind solche Grausamkeiten, ebenso wie die Rollenbilder, symbolisch aufzufassen. Wenn die Hexe im Ofen verbrennt, verbrennt da für die Kinder (sofern sie noch keine Horrorfilmerfahrung haben), keine wirkliche Person, sondern das Böse wird vernichtet. Nur so können sich die Kinder retten, und die aus den Fugen geratene Ordnung wiederherstellen. Das gute Ende vermittelt dabei die wichtige Gewissheit, dass das Böse besiegt werden kann.
Warum Märchen für Kinder wichtig sind
Trotz aller Kritik kann man sagen: Märchen tun Kindern gut. Sie sind unterhaltsam, bieten ästhetischen Genuss und einen wertvollen frühen Zugang zur Literatur. Außerdem machen Märchen Gefühle erfahrbar, vermitteln Wertvorstellungen oder regen zum eigenständigen Werten an. Kinder fühlen sich durch die beseelte Märchenwelt, in der Steine oder Tiere sprechen können, verstanden und in ihrer Weltsicht bestätigt. Das vermittelt ein Gefühl von Geborgenheit. Psychologen weisen zudem darauf hin, dass Märchen gut für die Entwicklung von Kindern sind, weil häufig konkrete Entwicklungsherausforderungen direkt oder indirekt thematisiert werden. Der Held muss sich stellvertretend bewähren und schwierige Aufgaben lösen. Das gute Ende eines Märchens zeigt dabei symbolisch an, dass die Kinder erfolgreich erwachsen und selbständig geworden sind. Auf diese Weise stärken Märchen und machen Mut.
Welche Märchen eignen sich für welches Alter?
Kleineren Kindern sollte man möglichst einfache und kurze Märchen vorlesen. Ein Märchen wie „Der süße Brei“ oder das „Vom dicken, fetten Pfannkuchen“ kann man schon Zweijährigen erzählen. „Rotkäppchen“, „Die Sterntaler“ oder „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ sind eher ab vier Jahren geeignet. Greife am besten zu einem Märchenbuch, das sorgsam und ästhetisch ansprechend bebildert ist. Am besten sind Märchenausgaben, die sprachlich möglichst nah am Original der großartigen Märchendichter wie den Grimms, Bechstein, Hauff oder Andersen sind. Die Gesamtausgabe der Grimms gehört zwar zur Weltliteratur, ist aber eher etwas für Jugendliche oder Erwachsene. Für ältere Kinder oder Jugendliche eignen sich die Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ oder Märchen von Paul Maar, Janosch, Christian Peitz oder Rafik Schami. Immer empfehlenswert sind die Märchenromane von Astrid Lindgren, Michael Ende und Joanne K. Rowling. Schließlich gibt es auch lustige Märchenparodien, wie Iring Fetschers „Märchenverwirrbuch“, Hans Traxlers „Wahrheit über Hänsel und Gretel“ oder die Bücher von Walter Moers.
Grundsätzlich gilt: Lasse dein Kind entscheiden. Es weiß selbst am besten, welches Märchen ihm gefällt und welches nicht.
Liest du mit deinem Kind Märchen? Welche Märchensammlung mag dein Kind am liebsten? Hat es ein Lieblingsmärchen? Schreib uns einen Kommentar!
Dr. Oliver Geister
Dr. Oliver Geister ist Autor der „Kleinen Pädagogik des Märchens“ und Herausgeber der Anthologie „Märchen des Münsterlands“. Er unterrichtet als Gymnasiallehrer die Fächer Deutsch, Pädagogik und Musik und ist als Lehrbeauftragter an der Universität Münster tätig. Gleichzeitig betreibt er den Blog Märchenpädagogik. Leseliebe ist für ihn als Vater, Lehrer und Märchenexperte „die Lust in Märchen und Geschichten vollkommen einzutauchen.“
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