Leseliebe: Kindergarten- und Schulstart sind große Einschnitte in den ersten zehn Lebensjahren. Was sind dabei die Herausforderungen für Kind und Eltern?
Anna Möller-Wolf: Diese Übergänge betreffen in der Regel nicht nur eine Person, sondern ihr ganzes System. Einschneidende Lebensereignisse sorgen für Veränderungen, die uns aus dem Gleichgewicht bringen. Sie dauern so lange an, bis das Gleichgewicht wiederhergestellt ist und das Leben erneut mit einer Kontinuität verläuft. Die Herausforderungen, denen sich Kinder und Eltern bei diesen Übertritten stellen müssen, sind denkbar unterschiedlich. Beide Seiten erfahren Belastungen wie Stress aber auch starke Gefühle (Angst, Unsicherheit), so dass Transitionen nicht nur kognitiv sondern auch emotional verarbeitet werden müssen.
Die Kinder werden mit neuen Personen und einem neuen Umfeld konfrontiert, in welchem sie sich erst einmal zurechtfinden müssen. Sie verlassen den sicheren Ort ihres Zuhauses und begeben sich in eine Situation, die völlig fremd ist. So dürfen sie nicht nur neue Menschen kennen lernen, sondern müssen sich auch mit Regeln und Normen im Umgang miteinander auseinandersetzen. Abhängig vom Alter und davon, aus was für einem Elternhaus sie kommen, bedeutet für viele Kinder bereits das Abwarten, bis man selber an der Reihe ist oder auch einfach das Stillsitzen eine große Herausforderung. Beim Übergang in die Schule kommt es zudem zu einer starken Veränderung des Tagesablaufes. Aus einem oft wenig strukturierten, flexiblen Vormittag im Kindergarten wechselt das Kind in den Schulalltag. Dieser zeichnet sich aus durch eine starke Strukturierung, ein explizites Lernen mit Wiederholungen und Üben und Leistungsanforderungen.
Für Eltern hingegen geht es in erster Linie darum loszulassen. Es gilt die Verantwortung für das eigene Kind für einen begrenzten Zeitraum an eine dritte Person zu übertragen. Dafür braucht es Vertrauen in eben diese dritte Person aber auch in die Fähigkeiten des eigenen Kindes. Als Elternteil sollte ich meinem Kind zutrauen, dass es alle Fähigkeiten und Fertigkeiten besitzt, um diesen Einschnitt zu meistern. Gleichzeitig sollte ich gerade dem kleinen Kind beim Eintritt in den Kindergarten ausreichend Zeit lassen und die nötige Sicherheit geben. Das bedeutet, dass die Eingewöhnungsphase begleitet wird und die Eltern durch ihre Anwesenheit die Sicherheit geben, die das Kind braucht, um im Rahmen seines Explorationsverhaltens die „neue Welt“ zu erkunden. Dieser Ablösungsprozess bedeutet für beide Seiten eine besondere Herausforderung und sollte mit ausreichend Zeit stattfinden.
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