Leseliebe: Manche Eltern befürchten bei einer allzu blühenden Fantasie so etwas wie einen Realitätsverlust oder haben Angst, dass ihre Kinder wegen ihrer fantasievollen Geschichten als Lügner wahrgenommen werden. Was raten Sie in diesem Fall?
Anna Möller-Wolf: Alles hat seine Zeit und fast immer wachsen die Kinder mit zunehmendem Alter auch aus dieser Phase heraus. Da das magische Denken etwas ist, was alle Kinder durchleben, werden sie von den Gleichaltrigen in der Regel nicht als „Lügner“ wahrgenommen, sondern lernen genau in diesem Kontext die Unterscheidung von Fantasie und Realität. Gerade im Kontakt mit anderen Kindern können die Fantasiewesen gemeinsam bespielt und Kuscheltiere, Puppen zum Leben erweckt werden. Im Spiel mit Gleichaltrigen sehen sich die Kinder nicht der Kritik und Realitätsvermittlung der Erwachsenen ausgesetzt und können so deutlich intensiver in Fantasiewelten eintauchen und von ihnen profitieren.
Vor diesem Hintergrund rate ich den Eltern in der Regel zu Gelassenheit und dazu erst einmal abzuwarten. Wichtig ist es auf Elternebene zu unterscheiden, wo das Kind seine Fantasie auslebt und wo es sich um Geschichten handelt, mit denen sich das Kind selbst schadet. In der magischen Phase nutzen Kinder ihre Fantasiewesen teilweise auch dafür, um an sie gestellte Anforderungen zu umgehen oder mit Überforderung einen Umgang zu finden.
Ein Beispiel: Ein vierjähriges Mädchen steht in seinem Zimmer umgeben von Spielzeug und allerlei Kram. Von der Mutter zum Aufräumen aufgefordert, berichtet es, dass gar nicht es selbst, sondern die Puppe alles ausgeräumt habe und nun nicht bereit sei, aufzuräumen. In dieser Situation kann das Kind mit der Kritik seiner Mutter nicht umgehen und fühlt sich als Person angegriffen. Es nutzt die Puppe zur Verkörperung der für dieses Alter typischen Aufteilung in „Gut“ und „Böse“ (polare Sichtweise). Die Puppe verkörpert das „Böse“, stiftet Unordnung und räumt nicht auf, und das Mädchen kann sich auf diese Weise distanzieren und bleibt das „Gute“. Spontan reagieren wir Eltern in diesen und ähnlichen Situationen häufig ungehalten und verärgert und erklären unserem Kind, dass die Puppe nichts ausräumen könne, unser Kind nicht solch einen Quatsch erzählen und jetzt endlich aufräumen solle. Um das Kind in seiner Sicht wahrzunehmen, könnten wir stattdessen fragen, warum denn die Puppe nicht aufräumen will. Im Anschluss könnten wir dem Kind sagen, dass es mit der Puppe schimpfen darf und ihr erklären solle, dass nach dem Spielen aufgeräumt werde müsse. Wenn sich die Puppe nicht daran halte, könne sie nicht mehr mitspielen. Mit diesem Vorgehen ermöglichen wir dem Kind, seine polare Sichtweise beizubehalten, stellen es nicht mehr als Person in Frage und nehmen es ernst. Der Machtkampf über die Notwendigkeit des Aufräumens könnte spielerisch entkräftet und eine für diese Alterspanne gültige Konfliktlösung gefunden werden.
Kommentar schreiben