Vor der Fantasie war der Realismus. Die ersten Kinderbücher meines Sohnes zeigten vor allem alltägliche Dinge: Tiere, Bälle und Zahnbürsten und – ganz wichtig – Fahrzeuge und Baustellen. Letzteres scheint auf Kleinkinder eine geradezu magische Wirkung zu haben. Mein knapp Einjähriger liebte es, zur Baustelle in der Nähe geschoben zu werden und dort den fleißigen Handwerkern zuzusehen – am liebsten stundenlang. Und vor dem Einschlafen wurde dieses Interesse auch literarisch aufgegriffen: Sein Lieblingsbuch handelte von dem Tag eines Baggerfahrers, der – oh Wunder – an verschiedenen Orten in der Stadt Löcher graben musste und die Wege von Baustelle zu Baustelle dank eines Tiefladers zurücklegte. Im Laufe der Zeit wurde der Buchgeschmack meines Sohnes vielfältiger. Bobo Siebenschläfer trat in unser Leben, irgendwann gefolgt von Leo Lausemaus und den ersten Conni-Geschichten. Doch auch hier bleibt es realistisch – mal abgesehen davon, dass Connis Mutter unnormal engagiert ist, Bobo bei jeder Gelegenheit einschläft und Leo Lausemaus arg angestaubte Rollenbilder vermittelt. Beschrieben wird trotzdem der typische Alltag eines Kindergartenkindes.
Gastbeitrag: Wie die Magie in unser Kinderzimmer kam
Mit der kindlichen Fantasie wachsen die Welten und Wesen im Kinderzimmer. Und davon profitieren auch die vorlesenden Eltern.
Mit der Magie wächst die Spannung
Mal unter uns: Dieser Alltag mag aus Sicht der Kinder spannend und ereignisreich sein, für uns selbst erscheint er doch relativ fade. So plätschern auch die meisten Kinderbuch-Geschichten für Zweijährige eher ereignislos dahin: Man geht auf den Spielplatz, dort wird gespielt, am Ende gibt es vielleicht noch ein Eis. Alle sind glücklich. Gegen die Geschichten von Bobo Siebenschläfer wirkt selbst eine Staffel Downton Abbey wie ein actionreicher Krimi. Keine Spur von verrückten Monstern, kleinen und großen Dramen oder gar Heldenreisen mit Irrungen und Wirrungen. Sämtliche Versuche schon früh Ritter oder Dinosaurier in das Bücherregal zu schmuggeln, scheiterten zu meinem Leidwesen an frühkindlichem Desinteresse. Doch zum Glück entwickelt sich die Fantasie unserer Kinder weiter und sie stellen fest, wie groß und komplex die Welt doch sein kann. Aus beiden Zutaten entsteht die sogenannte „magische Phase“. Die Welt, die unsere Kinder noch nicht verstehen, erklären sie sich mit viel Fantasie und Magie. Die Sonne geht jeden Abend schlafen, Hasen verstecken die Ostereier, der Weihnachtsmann bringt Geschenke und die Schnullerfee belohnt uns für den abgelegten Nuckel. Und noch viel wichtiger: In den Kinderbüchern wird es nun endlich bunter und lebendiger. Ritter, Piraten und Raumschiffe haben ihren großen Auftritt – genauso wie Dinosaurier und das starke Mädchen Pippi Langstrumpf.
Mit dem Raumschiff in die magischen Welten
Bei uns starteten zuerst Raumschiffe in die magischen Welten. Eine der ersten und bis heute sehr häufig vorgelesenen Geschichten dazu handelt von einem kleinen Astronauten in goldener Unterhose und seinem Worte verdrehenden Roboter. Gemeinsam nehmen sie an einem Weltraumrennen teil und gewinnen trotz eines Raumschiffs, das zusammengeflickter ist als Han Solos Millennium Falcon. Der Geschichte von Christian Tielmann verdanken wir sogar eine gold-gelbe Unterhose im Kleiderschrank. Doch nicht nur die unendlichen Weiten des Weltalls faszinieren meinen Sohn. Dank des kleinen Drachen Kokosnuss kamen Drachen dazu, dank einer Handpuppe aus dem Spielzeugladen die Einhörner. Geschichten von tapferen Rittern und verschlagenen Piraten leihen wir uns regelmäßig aus der Bücherei aus. Eine tolle Mischung aus unvorstellbaren Wesen und harten Fakten sind dagegen die Dinosaurier. Es gab sie wirklich, man kann ihre Überreste im Museum bewundern und ihre Verwandten – die Hühner – auf jedem Bauernhof bewundern. Andererseits waren sie so groß und unvergleichlich, dass sie auch einem Märchen entsprungen sein könnten. So erkläre ich mir jedenfalls meine eigene Faszination für die Urzeittiere, mit der ich meinen Sohn wohl angesteckt habe. Sein aktuelles Lieblingswimmelbuch zeigt unzählige Dinos, die wir inzwischen alle benennen und beschreiben können – vom fleischfressenden Carnotaurus, dem gewaltigen Apatosaurus bis zu meinen Lieblingen, dem Triceratops und dem Parasaurolophus. Sein neuester Berufswunsch: Dinoforscher.
Magische Welten gibt es auch außerhalb von Kinderbüchern
Natürlich bleiben die magischen Welten und Geschöpfe nicht nur zwischen Buchseiten gefangen. In unserer LEGO-Stadt wohnen Dinosaurier, Piraten und Ritter friedlich neben der Feuerwehrfrau und dem Müllmann. Sogar einen Weltraumbahnhof gibt es hier – gewissenhaft verwaltet von C3PO und Chewbacca. Und erst vor wenigen Tagen „flog“ mein Sohn auf dem Besen durch Omas Garten. Vor jedem Start rief er laut „Ene mene, eins, zwei, drei, flieg los Kartoffelbrei“. Zur Erinnerung: Mit diesem Zauberspruch nimmt Bibi Blocksberg ihren Hexenbesen in Betrieb. Doch die Welt der Fantasie ist nicht nur Inspiration für das Spiel oder hilft die eigene Welt zu ordnen, manchmal macht sie auch Angst. Ein Klassiker sind die Monster unter dem Bett. Zum Glück schläft mein Sohn in einem bodentiefen Hausbett. Darunter kann sich kein Monster zwängen. Er hat eher Angst vor Gespenstern, die hinter Vorhängen lauern. Zum Glück beruhigt ihn meistens ein gemeinsamer Blick hinter die Vorhänge mit der Versicherung, dass die Gespenster in unserem Haus alle sehr lieb sind. Die kindliche Fantasie als Hirngespinst abzutun und nicht ernst zu nehmen, erscheint mir dagegen als Holzweg – selbst, wenn die magischen Wesen aus dem am Abend vorgelesenen Kinderbuch mal wieder den elterlichen Schlaf rauben oder wir für einen unsichtbaren Freund den Frühstücktisch decken müssen. Und für besonders gruselige Monster hat meine Frau einen tollen Trick: Sie hat meinem Sohn erzählt, dass sie sich nur jemand ausgedacht hat. Für ihn ist das offensichtlich eine sehr beruhigende Erkenntnis – egal, ob nun beim Vorlesen eines Bilderbuches über kleine Monster, die von Kleiderschrank zu Kleiderschrank reisen oder beim Blick auf gruselige Feuerdämonen im Spielzeugkatalog.
Welche magischen Wesen bevölkern euren Bücherschrank? Welche zauberhaften Geschichten lieben eure Kinder besonders? Und in welche dieser Welten würdet ihr gerne einmal reisen? Verratet es uns in den Kommentaren!
Birk Grüling
Birk Grüling ist vormittags schreibender und nachmittags spielender und vorlesender Papa. Als freier Autor schreibt er nicht nur Texte für Kinder, sondern auch für Medien wie Spiegel Online, RND, Süddeutsche Zeitung, Eltern oder DAD über Väterrollen, frühe Kindheit und digitale Bildung. Leseliebe ist für ihn ... eine tolle Gelegenheit für gemeinsame Momente zum Kuscheln und Träumen.
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