Artikel: 6-10 Jahre
 

Interview: Tipps zum Lesenlernen

Du fragst dich, wie du deinem Kind beim Lesenlernen helfen kannst? In unserem Experten-Interview findest du Antworten! 

Um eine Liebe zum Lesen entwickeln zu können, brauchen Kinder zuallererst die Möglichkeit, sich regelmäßig mit dem Medium Buch beschäftigen zu können. Und dann müssen sie das Lesenlernen intensiv trainieren, weil ohne ausreichende Fähigkeiten Lesen einfach keinen Spaß macht. Eltern können hier vieles tun, um ihr Kind zu unterstützen und ihnen das Tor zur Buch- und Leseliebe weit zu öffnen. Was genau, haben wir Dr. Miriam Stiehler gefragt und sie hat uns ausführlich und mit vielen hilfreichen Tipps geantwortet.  

Leseliebe: Ist es sinnvoll, Kinder schon vor der Einschulung auf das Lesenlernen vorzubereiten? Wenn ja, was können Eltern tun?

Dr. Miriam Stiehler: Ja, das ist sinnvoll, weil erfolgreiches Lesenlernen einige sprachliche Kompetenzen voraussetzt. Eltern können vier Dinge tun:  

 

  1. Sie können Kindern einen großen Wortschatz vermitteln, indem sie sich gewählt ausdrücken und beim Tischgespräch und Vorlesen seltenere Wörter erklären, anstatt den Kindern zuliebe auf sie zu verzichten. 

  1. Wer gezielt üben möchte, sollte an die verschiedenen Laute denken, für die einige Buchstaben stehen können. Besonders betrifft das die Vokale: Es ist ganz wichtig, A E I O U nicht immer lang zu sprechen wie im Alphabet, sondern die kurzen Laute wie z.B. in „Ente“ zu berücksichtigen.  

  1. Eltern sollten Kinder daran gewöhnen, sich alleine ruhig und konzentriert für etwa eine halbe Stunde ein Buch anzusehen und zwar in aller Regel ohne zusätzliche Apps, Vorlesefunktionen etc. Es gibt so tolle Sachbücher für Vorschulkinder, dass auch Nichtleser daran schon Freude haben können.   

  1. Eltern sollten mit Kindergartenkindern nicht nur über das Hier und Jetzt sprechen, sondern über Erinnerungen, über mögliche Welten („Was würde Spiderman tun, wenn…?“) und auch über Sprache. Das fördert das Abstraktionsvermögen enorm. 

 

Leseliebe: Wenn das Kind in der Schule ist: Warum ist es wichtig, das Lesen zusätzlich zum Schulunterricht privat zu üben?

Dr. Miriam Stiehler: Das ist sehr wichtig, weil in der Schule dafür einfach nicht genug Zeit ist. In der Schule können Grundprinzipien vermittelt werden, gute Lehrer beheben auch die individuellen Lesefehler des Kindes (Aussprachefehler, Irrtümer…) bzw. geben den Eltern passgenaue Tipps für das häusliche Üben. Aber darüber hinaus sollten Sie es wie beim Sport betrachten: Im Skikurs oder Schwimmkurs lernt man die Grundlagen. Aber erst, wenn man außerhalb der Kurszeiten regelmäßig schwimmt oder Ski fährt, wird man routiniert und sicher, und erst da kann man neue Gebirge oder Seen entdecken, die einen begeistern. Beim Lesen ist es ähnlich. Je nach Methodik geben manche Lehrer tägliche Leseübungen als Hausaufgabe, die man unbedingt durchführen sollte. Darüber hinaus sollten alle Kinder, egal nach welchem Prinzip sie unterrichtet werden, täglich zu Hause lesen – bevor sie irgendwelche anderen Medien benutzen dürfen. 

Leseliebe: Worauf sollten Eltern bei der Lektüre-Auswahl für ihre Leseanfänger achten?

Dr. Miriam Stiehler: Mir persönlich sind literarisch hochwertige Bücher wichtig. Deshalb müssen Kinderbücher für mich besonders gut geschrieben sein, ohne jedoch zu viele indirekte Redensarten oder englische Ausdrücke zu enthalten. Die Lebenswelt darf ruhig fremd sein, muss aber nachvollziehbar bleiben. Die Bücher dürfen frech sein, aber nicht vulgär. In den allerersten Monaten nimmt man als Erstlesebücher einfach die aus der Kindergartenzeit erneut her und lässt die Kinder einzelne Wörter oder später den ganzen Text selbst lesen.  

lesen_beibringen

Leseliebe: Wie oft und wie lange sollten Kinder zuhause das Lesen üben? 

Dr. Miriam Stiehler: Üben bedeutet: Leistungssteigerung pro Zeit. Es geht also nicht nur darum, überhaupt ein bisschen gelesen zu haben, sondern von Monat zu Monat erkennbar flüssiger, fehlerärmer zu lesen und mehr Seiten in der selben Zeit zu schaffen. Daran erkennt man Fortschritt. Das ist übrigens kein unnötiger Druck, sondern wirkt im Gegenteil entlastend – denn nur, wer das Lesen routiniert und sicher beherrscht, empfindet es als leichte, fröhliche Tätigkeit; wer wenig übt und zäh liest, bleibt ständig hinter dem Lernziel zurück und empfindet Druck, Angst und Frustration. 

Vor diesem Hintergrund empfehle ich Eltern, mit Erstklässlern in den ersten Monaten täglich die Lesehausaufgaben (falls vorhanden) zu erledigen. Alternativ kann man sich selbst sehr leicht Leseaufgaben erstellen, indem man immer zwei bereits im Unterricht eingeführte Buchstaben eine Zeile lang aufschreibt und lesen lässt, bzw. kleine Wörter aus den bekannten Buchstaben:  

M A A M M A M A A 

oder  

AM AM MA AM MA MA etc.  

Diese Übungen dürfen, bis alle Buchstaben eingeführt sind, täglich bis zu 15 Minuten dauern. Sobald das Kind genug Buchstaben kennt, um unbekannte Wörter zu lesen, sollte man zusätzlich 20 Minuten pro Tag mit dem Kind in einem Buch lesen. Zunächst abwechselnd und später im Beisein eines Erwachsenen selbständig. 

Leseliebe: Wie begleiten und unterstützen Eltern die ersten Lese-Bemühungen optimal? Gibt es Verhaltens-Tipps für das gemeinsame Lesen?

Dr. Miriam Stiehler: Eltern sollten sich zunächst bewusst machen, wie anstrengend das Lesen am Anfang für Kinder ist. Gerade Eltern, die Bücher lieben, vergessen das manchmal vor lauter Begeisterung. Das heißt aber nun nicht, dass man es besonders langsam angehen lassen sollte; im Gegenteil je schneller ein Kind durch die zähe Phase des Lesens unter Sprechgeschwindigkeit kommt, umso besser.  

Eltern sollte jedoch klar sein, dass Kinder bei Frustration auch mal wütend werden oder weinen. Das ist normal und bedeutet weder, dass das Kind grundsätzlich überfordert wäre, noch, dass es Bücher nicht lieben lernen kann. Eltern sollten bei Frustanfällen daher ganz ruhig bleiben, sich auf das Fehlende hinter dem Fehler konzentrieren und konkret helfen. Hat das Kind vielleicht ein Problem mit langen und kurzen Vokalen und liest „Eeeenteee" statt „Ente“? Dann erkennt es das Wort nicht, obwohl es alle Buchstaben „eigentlich richtig“ gelesen hat. Wer so überlegt, fokussiert sich auf passende Hilfestellungen und bleibt dadurch ein toller Lesehelfer. 

Bis zu einer Geschwindigkeit von etwa 60-80 Wörtern pro Minute ziehen es Kinder übrigens vor, laut zu lesen, danach dürfen sie gerne still lesen und nur minutenweise laut zur Kontrolle. 

Leseliebe: Können Sie Möglichkeiten empfehlen, um das Lesenlernen im Alltag nebenbei und spielerisch zu fördern?

Dr. Miriam Stiehler: In meiner Vorschule lernen die Kinder am Beispiel einer Computertastatur, dass es Ziffern gibt, mit denen man Zahlen schreibt, und Buchstaben, mit denen man Wörter schreibt. Wenn sie das verstanden haben – etwa mit 5 Jahren , sammeln wir Dinge aus dem Alltag und untersuchen, was man alles mit Ziffern oder Buchstaben aufschreibt. Da gibt es allein schon auf der Quittung von der Pizzeria viel zu entdecken: Preise, Adressen, Telefonnummern, Namen von Gerichten …  

Eine sehr beliebte Aufgabe ist es, Kinder mit einem Bündel selbstklebender Notizzettel durchs Haus zu schicken und Dinge suchen zu lassen, in deren Namen man einen bestimmten Laut am Anfang hört. Ein Kind bekommt z.B. 20 Zettel auf denen ein „M“ steht und darf sie auf alles kleben, was mit „M“ anfängt, von der Mama bis zur Marmelade. Sehr gut für den Wortschatz ist es, wenn die Kinder gezielt lernen, andere Bezeichnungen für etwas zu suchen. Man kann ihnen z.B. eine Karotte hinhalten und sagen „Wenn du weißt, wie man das mit M noch nennen kann, kannst du auch hier einen Zettel draufkleben“. Sagt das Kind „Möhre“, hat es nicht nur seinen Wortschatz erweitert, sondern auch über Sprache nachzudenken gelernt.  

Leseliebe: Gibt es bewährte Tipps, mit denen Eltern ihr Kind zum Lesen motivieren können?

Dr. Miriam Stiehler: Ich glaube nicht, dass es Universal-Rezepte für solche komplexen Vorgänge gibt. Aber man kann Rahmenbedingungen schaffen, die Lesefreude fördern: 

Als allererstes sollte man den Familienalltag von Lese-Hindernissen befreien. Dazu gehört es, „Fastfood-Medien“ zu beschränken, also von vornherein Fernsehen, Videospiele, aber auch Hörspiele nur kontrolliert und in einem geringen Maß zuzulassen. (Dann allerdings ohne erhobenen Zeigefinger und mit Genuss alles hat seine Zeit und seinen Platz …). Zu den äußeren Rahmenbedingungen gehört ein strukturierter Tagesablauf, in dem es unverplante Zeit gibt, in der man sich überhaupt mit einem 400-Seiten-Schmöker festlesen kann, ohne dass das Mamataxi zum nächsten Termin drängt. Wenn außerdem abends die ganze Familie auf dem Sofa sitzt und jeder in seinem Buch liest, anstatt fernzusehen, schafft man viele schöne Erinnerungen an gemeinsame Abende. Eine Leselampe am Bett, die Gewohnheit vor dem Einschlafen zu lesen und ins Wartezimmer oder in die S-Bahn immer ein Buch mitzunehmen, das sind ebenfalls gute Bausteine nach dem Motto „Gelegenheit macht Leseliebe“. Viele Kinder lassen sich außerdem für die Regel begeistern „Du schläfst entweder gleich um 20:15 Uhr oder du liest noch und darfst dafür bis 20:45 Uhr aufbleiben“. 

Leseliebe: Haben Sie Leselern-Tipps für Kinder, die sich mit dem Lesen besonders schwer tun?

Dr. Miriam Stiehler: In unserer förderdiagnostischen Praxis machen wir mit leseschwachen Kindern zunächst immer eine Fehleranalyse. Wir lassen die Kinder einen altersgemäßen Text drei Minuten lang vorlesen und notieren nicht nur die Geschwindigkeit, sondern untersuchen auch die Art der Lesefehler. Wir überprüfen, ob das Kind wirklich alle Buchstaben und Schreibzeichen (wie SCH, AU, ER…) in weniger als einer Sekunde erkennt. Außerdem untersuchen wir, ob den Kindern bewusst ist, dass Vokale lang oder kurz gesprochen werden. Viele Kinder verbessern sich schon enorm, wenn sie ein halbes Jahr lang wie folgt täglich üben: Die nicht beherrschten Schreibzeichen und Laute täglich 5 Minuten zeilenweise üben; 10 Minuten lang einen ganz kurzen Text (ca. 200 Wörter) mehrmals so schnell wie möglich fehlerfrei lesen; 25 Minuten still in einem guten Kinderbuch lesen.  

Lehrerin & Sonderpädagogin

Dr. Miriam Stiehler

Dr. Miriam Stiehler ist Lehrerin, Sonderpädagogin und Mutter von vier Kindern. Seit 1998 unterrichtet sie Menschen aller Alters- und Begabungsstufen und führt seit 2004 eine eigene Praxis für Förderdiagnostik mit „Zwergenschule“ und Elternberatung. Außerdem gibt sie WissenSchaffer-Seminare für Eltern und Pädagogen, hält Vorträge an Universitäten und Akademien, publiziert Fachbücher und schreibt auf ihrem Förderdiagnostik-Blog über das Lesen und mehr. Leseliebe ist für sie „eine geistige Heimat, die ich überall mit hinnehmen kann.“ 

Expertin_Miriam_Stiehler

Kommentar schreiben

Du bist nicht angemeldet! Melde dich jetzt an und du kannst sofort einen eigenen Kommentar verfassen.

Die neusten Kommentare der Community

Sabbs1

Interview: Tipps zum Lesenlernen

Vielen Dank für den Beitrag, ich tue mich persönlich schwer mit der art wie meine frisch eingeschulte Maus liest, aber ich werde mir das eine oder andere als Tipp mal zu Herzen nehmen.